Eine Hauptrolle: das Drehbuch

Damit die immer gut besetzt ist, hat die Günter Rohrbach Filmpreis Stiftung erstmals einen Wettbewerb für Drehbuch-Exposees ausgelobt. Aus diesem Anlass stellen wir drei aktuelle Kinofilme mit unterschiedlichen Drehbuch-Prämissen vor.

Marga Boehle

(schreibt u.a. auch für Blickpunkt:Film)

 

Wer kennt nicht das Hitchcock-Zitat, an dem sich Generationen von Autoren abarbeiten: "Um einen großartigen Film zu machen, brauchst du drei Dinge – das Drehbuch, das Drehbuch und das Drehbuch". Billy Wilder meinte: "Es ist sehr schwer, aus einem schlechten Drehbuch einen guten Film zu machen. Umgekehrt ist das schon einfacher."
Fest steht: Das Skript spielt beim Film eine der Hauptrollen. Regisseurin und Autorin Franziska Stünkel wurde beim diesjährigen Filmfest München für das beste Drehbuch zu ihrem Polit-Drama Nahschuss (bereits gestartet) mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet. Sieben Jahre lang hat sie an dem Projekt gearbeitet: "Es gab lange Recherchewege, eine Grundvoraussetzung für Kino, um Komplexität und Mehrdimensionalität zu erzählen," beschreibt sie den Prozess im Interview. "Um nicht nur dem Thema, sondern auch der Geschichte des Menschen, der dahinter steht, gerecht zu werden." Ausgangspunkt war ein Zeitungsartikel über die Todesstrafe in der ehemaligen DDR. "Davon hatte ich noch nie gehört," so Stünkel, "und viele andere auch nicht. Es ist ein historischer Fakt, der nicht im kollektiven Bewusstsein angekommen ist. Deshalb fand ich es wichtig, dass das jemand erzählt."
Angelehnt an die wahre Lebensgeschichte des DDR-Wissenschaftlers Dr. Werner Teske handelt Nahschuss von dessen Verurteilung und Hinrichtung 1981 – wegen eines vergleichsweise geringen Vergehens. Sein Tod ist die letzte von 166 vollstreckten Hinrichtungen. Dabei beginnt seine Geschichte hoffnungsvoll: "Ich erzähle von einem Menschen, der sich in einem politischen System befindet und darin handelt, Entscheidungen treffen muss. Die Frage ist doch, sind wir frei in den Entscheidungen, die wir treffen? Wir sind geprägt durch ein politisches System, Kindheit, Erziehung, Gesellschaft. Nahschuss zeigt universelle Themen auf, die über das System DDR hinausweisen, die auf uns als Mensch verweisen. Es scheint mir wichtig, sich zu fragen, wodurch bin ich geprägt," erläutert die Autorin/Regisseurin ihre Stoffwahl. Drehbuchförderung für das Treatment bekam sie von der Nordmedia. Dann vertiefte sie sich in den Stoff, verbrachte viel Zeit an Originalschauplätzen in Berlin, an denen auch gedreht wurde, wie in der Justizhaftanstalt Hohenschönhausen oder der Mielke-Etage im Ministerium für Staatssicherheit in der Normannenstraße, die es immer noch gibt. "Originalschauplätze sind extrem wichtig für das Feeling des Films," sagt sie. "Ich glaube an die Kraft dieser Orte. Da habe ich mich tagelang aufgehalten während des Schreibens, das Gefühl floss ins Drehbuch ein." Stünkel ist auch Streetart-Fotografin, als solche beobachte sie, werde selbst fast unsichtbar: "Man spürt die Räume, und wenn man sich Zeit lässt, dann kommt die Seele. Film ist etwas Feinstoffliches, macht das Unsichtbare sichtbar." Ihre Inszenierung erzählt immer zwingend an der Hauptfigur entlang. Einer, der man mit wachsender Faszination zusieht: Lars Eidinger spielt diesen Getriebenen in einer der herausragenden Rollen seiner Karriere. Für Proben gab es keine Zeit, sprich kein Geld, daher wurde intensiv in ruhigen, langen Einstellungen gedreht. Gab es Raum für Improvisation? Vieles passiert zwischen den geschriebenen bzw. gesprochenen Zeilen. Stünkel: "Die Worte sind geblieben. Aber was nonverbal passiert, haben wir teilweise mit nur einem Take gedreht. Wie die erste Szene im Barkas, dem Gefangenentransport. Den gibt es noch, man kann sich reinsetzen. Die Heizung darunter wurde voll aufgedreht und die Gefangenen lange im Keller herumgefahren. Hitze und Enge erzeugten klaustrophobische Zustände, schürten die Angst des Ausgeliefertseins." Dieses Gefühl wurde bei den Dreharbeiten abgerufen: Lars Eidinger saß alleine zehn Minuten in dem engen Gefährt, alles um ihn herum totenstill. "Als wir beide spürten, er ist soweit, haben wir die Szene Onetake gedreht", erinnert sich Stünkel. "Im Schnitt muss man dann natürlich aushalten, dass es keine Alternativen gibt. Ich kenne das aus der Fotografie, da drückt man einmal ab - ich manipuliere nicht."
Ihr ging es darum, möglichst nah und wahrhaftig am Menschen dran zu sein. Selber eine Position zu finden zu diesem Thema, das ein weitgehend unbekanntes, aber wichtiges Stück deutsche Geschichte ist – und mehr.

Um deutsch-deutsche Vergangenheit, die in die Gegenwart strahlt, geht es auch in Lieber Thomas (Kinostart: 11.11.2021), mit dem Regisseur Andreas Kleinert und Drehbuchautor Thomas Wendrich dem leidenschaftlichen (DDR-)Autor, Filmemacher und Polit-Aktivisten Thomas Brasch ein Denkmal setzen. Der Film ist ein cineastischer Coup zwischen poetisch-fiktionaler Traumreise und persönlicher Annäherung. Grimme-Preisträger Kleinert und sein nicht minder renommierter Autor (Wendrich schrieb u.a. "NSU – heute ist nicht alle Tage" und "Je suis Karl", aktuell im Kino) lehnen sich an Braschs Leben an, erfinden aber Figuren und private Ereignisse dazu. Es ist ein Film von beeindruckender Wucht, außergewöhnlicher Ästhetik und gesellschaftlicher Relevanz. Die Entstehungsgeschichte dauerte über zehn Jahre. Warum heute ein Film über Thomas Brasch? "Weil er", so Kleinert, "immer hundertprozentig seine Positionen vertreten hat und Argumente dafür lieferte. Er hat eine unbestechliche Haltung und davon zu erfahren, tut unserer heutigen Gesellschaft sehr gut." Modellhaft sollte auch ein Künstler präsentiert werden, der scheinbar einer anderen Gesellschaft, einer anderen Zeit angehört, mit seinem Suchen aber auch Vorbild sein könnte und heute wichtiger denn je erscheint - in einer hyperkorrekten Social-Media-Welt, in der er sicherlich angeeckt wäre. Kleinert findet, man müsse "… Leute ermuntern, bei aller politischen Korrektheit ihre Meinung zu äußern. Meinung und Gegenmeinung müssen möglich sein."
Zwischen Fiktion und Realität, Traum und Wahrheit wechselt der schwarz-weiß gedrehte Film. Autor Wendrich findet das "… völlig angebracht. Wir zeigen den Künstler und seine Kunst- und Gedankenproduktion, seine Filmproduktion – wie denkt ein Mensch?" In Traumsequenzen wie in Realitäten hineinzugehen, erwies sich als adäquates filmisches Mittel, um den Zuschauer zu verführen, in eine parallele Welt einzutauchen. Zunächst schrieb Wendrich ein Exposé aus Texten Braschs: "Lebende Bilder sozusagen. Es gibt zahlreiche Ankedoten, jeder hat seine Wahrheit über Brasch, aber wir mussten uns zum Kern vorarbeiten," fährt der Autor fort. "Was wir am sichersten haben, ist die Schrift. Davon ausgehend haben wir fabuliert." Die Texte erwiesen sich als idealer Ausgangspunkt, Braschs Gedicht "Papiertiger" gliedert den Film.
Die Fülle an Material war erdrückend, die Auswahl nicht einfach. Wendrich interessierte vor allem der Künstler in seiner Zeit. Kleinert war die Vaterfigur wichtig. Wendrich fürchtete, dass man Braschs Vater, den Partei-Funktionär, als miesen Menschen wahrnehmen könnte, der er nicht war. Durch die intensive Zusammenarbeit der beiden in der Drehbuchentwicklungsphase sei es gelungen, "… differenziert zu zeigen, dass diese Menschen Sehnsüchte hatten und aus einer dunklen Kriegszeit kamen," sagt Wendrich.
"Wir haben lange am Buch gesessen," fügt Kleinert hinzu. "Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben. Die Szene, in der Brasch seinen Vater im Krankenhaus besucht, geht auf persönliche Erinnerungen zurück. Mein Vater war auch Funktionär, mit dem ich viel gestritten, den ich aber auch wahnsinnig geliebt habe." Wendrich ergänzt: "Die Episode haben wir im Drehbuch lange verteidigt. Bucharbeit ist immer auch ein Kampf. Diese emotionale Geschichte zwischen Andreas und seinem Vater hat mir beim Schreiben unglaublich geholfen." Aus filmdramaturgischen Gründen wurde das letzte Zusammentreffen von Brasch mit seinem Vater von Ostberlin nach Cannes verlegt. Die Beziehung der beiden sollte einen Abschluss bekommen: "Sie erweist sich aber nur als ein dauernder innerer Kampf des Sohnes mit seinem Vater, dem er gefallen möchte."
"Wir versuchen, die Arbeitsweise darzustellen, mit der Brasch auf die Welt zugegangen ist," erläutert Wendrich den Ansatz der Filmemacher "Es gibt kein Suchen nach Chronologien oder Vollständigkeit." Zwar habe man mit zahlreichen Zeitgenossen aus Braschs Umgebung gesprochen, sich aber auch über vieles hinweggesetzt und in der Ausstattung bisweilen nicht für die realistische Variante entschieden, sondern für die, bei der der Ausdruck stimmt. Für Wendrich war es beim Schreiben hilfreich zu wissen, dass Albrecht Schuch die Hauptrolle übernimmt – in einer grandiosen schauspielerischen Tour de Force. Autor und Regisseur kommen aus Dresden bzw. Ost-Berlin und sind froh, "... was die Deutungshoheit von emotionalen und sozialen Befindlichkeiten im Osten angeht, aus einem breiten, eigenen Erfahrungsfundus schöpfen zu können," meint Wendrich, der sich in vielen Filmen, die korrekt und chronologisch ‘genau’ die DDR wiedergeben, emotional oft nicht wiederfindet. Nirgendwo sonst werde auf eine Gesellschaft nur politisch geschaut und nicht auch sozial: "Das ist etwas, womit wir aufräumen wollen."

In einem ganz anderen Genre bewegt sich Erfolgsregisseur Sönke Wortmann. Von ihm kommen gleich drei neue Projekte demnächst in die Kinos, den Anfang macht Contra (Filmstart 28.10.) Gerade bei Komödien sind Timing und Dialogwitz das A und O – damit kennt sich der Regisseur von Hits wie "Der bewegte Mann", "Deutschland, ein Sommermärchen" oder "Das Wunder von Bern" mit je über 3 Mio. Besuchern bestens aus. Auch "Der Vorname" brachte es 2018, vor der Pandemie, auf immerhin 1,2 Mio. Zuschauer. Das Sequel "Der Nachname" (Kinostart Anfang 2022) ist abgedreht – beide nach Drehbüchern von "Pastewka"-Autor Claudius Pläging. In Postproduktion ist die Satire "Eingeschlossene Gesellschaft" nach einem Original-Hörspiel von Jan Weiler, Kinostart ebenfalls Anfang 2022. "Zu einem Stoff von Erfolgsautor Jan Weiler muss man nicht viel erklären," meint Wortmann. "Es ist eine Komödie, die einen satirischen Blick ins Lehrerzimmer wirft."
Contra dürfte ebenfalls in der Millionen-Zuschauer-Liga spielen. Dafür steht auch Autor Doron Wisotzky, der für Matthias Schweighöfer Hits wie "What a Man" und "Schlussmacher" schrieb. Wortmann gelingt ein Besetzungscoup mit dem "alten Hasen" Christoph Maria Herbst und dem mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichneten Nachwuchstalent Nilam Farooq, die er in der entlarvenden Tragikomödie aufeinanderprallen lässt: Er als Professor mit Hang zu fremdenfeindlichen Bemerkungen, sie als von ihm beleidigte Studentin. Der Stoff, der für Diskussionen sorgen wird, basiert auf der französischen Vorlage "Le Brio", die Wisotzky für das deutsche Publikum adaptierte.
"Das Drehbuch ist vor den Dreharbeiten entscheidend, Musik und Schnitt sind danach wichtig, um die richtigen Emotionen zu wecken," erklärt Wortmann. "Das Drehbuch ist die Grundfeste eines jeden Films. Je besser das Drehbuch, desto weniger Fehler kann man als Regisseur machen. Idealerweise hat man ein gutes Drehbauch und macht daraus einen guten Film. Aber ohne gutes Drehbuch kann man keinen guten Film machen. Ich versuche, in der Drehbuchfassung möglichst präzise zu sein, weil man am Drehort wenig Zeit hat zum Ausprobieren." Er sei ein großer Anhänger einer möglichst intensiven Vorbereitung: "Ein Drehtag ist wahnsinnig teuer. Improvisation ist da nicht angesagt. Grade in einer Komödie ist gut vorbereitet sein das Beste." Ist das Timing beim Witz wirklich so entscheidend? Contra sei ja keine reinrassige Komödie, meint er, vielmehr ein Drama mit komödiantischen Elementen: "Aber es stimmt, bei der Komödie ist das Timing nochmal entscheidender als bei anderen Genres."
Und dann gibt es natürlich noch die "klassischen" literarischen Adaptionen, von den Eberhofer-Universen einer Rita Falk – der jüngste Ableger der Reihe, "Kaiserschmarrndrama", riss kürzlich als erster deutscher Film seit Ausbruch der Corona-Pandemie die Eine-Million-Zuschauer-Marke -, bis zu Detlev Bucks Neuverfilmung von Thomas Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" (aktuell im Kino), nach einem Drehbuch von Erfolgsautor Daniel Kehlmann. Von den verschiedenen Möglichkeiten, Vorlagen für einen Film zu schaffen, ist und bleibt die größte Herausforderung das Skript nach einer Originalidee. Der Günter Rohrbach Filmpreis begibt sich auf die Suche nach den besten Ideen. Damit noch viele unerzählte Geschichten den Weg auf die Leinwand finden.